Kardinal Christoph Schönborn im Osservatore Romano im Oktober 2004
Kann man als Politiker überhaupt heiligmäßig leben? Ist eine verantwortliche Führungspersönlichkeit des I. Weltkriegs als Seliger vorstellbar und sinnvoll? Diese Fragen werden im Zusammenhang mit der Seligsprechung Karls aus dem Hause Österreich immer wieder gestellt.
Jeder Mensch – wohin Gott ihn auch immer gestellt hat – ist zur Heiligkeit berufen und befähigt. Verantwortungs- und Entscheidungsträger wie Politiker, Wirtschaftskapitäne oder auch Bischöfe sind dabei gewiss vor eine besondere Herausforderung gestellt, aber keineswegs aus dem Ruf zur Heiligkeit entfassen.
Gerade die historische Persönlichkeit Kaiser Karls von Österreich ist durch Propaganda und Verleumdung im Bild der Öffentlichkeit verzerrt worden, wie wenig andere seiner Zeit. Die überaus sorgfältiger Arbeit wissenschaftlich historischer Untersuchungen – gerade auch im Zusammenhang mit dem Seligsprechungsprozess – haben die manipulativen Verzerrungen aufdecken und korrigieren können.
Als einziger der führenden Verantwortlichen aller Seiten im Ersten Weltkrieg hatte Karl Fronterfahrung. Er bemühte sich nach Kräften, die Gräuel des Krieges konkret zu lindern und einen Frieden herbeizuführen. Als Kaiser begriff er den Frieden als die Königspflicht schlechthin. In seiner Regierungserklärung nannte er daher den Frieden als zentrales Ziel. Nur Karl nahm die Friedensbemühungen Papst Benedikt XV. auf und erarbeitete in dessen Sinn eine Reihe von Lösungsvorschlägen (die von Historikern als durchaus realistisch und aussichtsreich eingeschätzt werden). All diese Bemühungen scheiterten letztlich am Siegfriedens-Wahn der bestimmenden Kräfte (Hindenburg, Ludendorff) beim deutschen Bündnispartner und an der Anti-Friedens-Partei der Entente. Karl war für den Frieden zu beträchtlichern Opfern bereit und richtete auch nach seiner Entmachtung sein ganzes Bestreben darauf, den Frieden und die Stabilität unter seinen Völkern und allen Nationen Europas zu erlangen und zu befestigen. Die Versuche, die Macht in Ungarn wieder auszuüben, unternahm Karl auf Bitten des Papstes in der (berechtigten!) Sorge um Stabilität und Freiheit. Sein Todesleiden sah der Kaiser als Opfer für Frieden und Einheit in der Mitte Europas.
Es gelang Kaiser Karl wegen der übermächtigen Gegenkräfte zwar nicht, die Donaumonarchie geeint in den Frieden zu führen, er konnte aber (gegen dezidierte deutsch-österreichische Pläne) die Unabhängigkeit Österreichs bewahren und durch die Einrichtung von Nationalräten einen friedlichen Übergang aus der Monarchie in die Nachfolgestaaten veranlassen.
Nicht nur im Sinne der individuellen Nächstenliebe nahm sich Karl von Kindheit an um die Menschen in Not an, denen er begegnete. Als Kaiser trug er ein umfassendes Sozialprogramm mit. Er ernannte den ersten Sozialminister der Welt und ermöglichte vom Mieter- bis zum Jugendschutz, vom Familienrecht bis zur Sozialversicherung, vom Arbeitsrecht bis zum Projekt für Arbeiterkammern neue Dimensionen der Sozialpolitik. Die Grundstrukturen dieser Maßnahmen sind bis heute in Kraft.
Das ihm verliehene Amt sah Kaiser Karl als Auftrag Gottes. Das bedeutete keineswegs eine Legitimation willkürlicher Machtausübung, sondern die unbedingte Pflicht, gerade auch in dieser hohen Position Christus, dem einzigen wahren König, nachzufolgen und sein Beispiel nachzuahmen. Daher traf Karl keine wichtige Entscheidung ohne Gebet. Eine innige Verehrung der Eucharistie und des heiligsten Herzens Jesu (beides Symbol und Ausdruck der hingebungsvollen Liebe Gottes) gab dem Kaiser Halt und Orientierung. Diesen Auftrag konnte Kaiser Karl daher einfach nicht zurücklegen. Eine Abdankung hätte ihm (wie Kaiser Wilhelm II.) Reichtum und Bequemlichkeit gesichert. Karl nahm Elend, Not und Todesleiden (das er sich mit etwas Vermögen gewiss nicht zugezogen hätte) auf sich, um seiner Aufgabe treu zu bleiben und im Dienst für die ihm anvertrauten Völker Christus nachzufolgen.
Karl und Zita führten eine vorbildliche Ehe. In Offenheit und Vertrauen besprach der Kaiser alle wichtigen Angelegenheiten mit seiner Gemahlin, die voller Respekt für seine Verantwortung und Autorität war. Der leidenschaftlich-lebendige Charakter der Kaiserin und das ruhig-bedachte Wesen des Kaisers ergänzten sich in gegenseitiger Wertschätzung auf liebevolle Weise. In elf Ehejahren wurden dem Paar acht Kinder geschenkt. Das gerade auch bezüglich des Familienlebens überaus sorgfältige geführte Seligsprechungsverfahren hat das tadellose Verhalten Kaiser Karls als Ehemann restlos erwiesen. Die letzten Worte, die Karl an seine Frau richtete, lauteten: „Ich liebe dich unendlich.“
Kaiser Karl bemühte sich persönlich um die religiöse Erziehung seiner Kinder, machte sie mit den Glaubenswahrheiten vertraut und führte sie ins Gebet ein.
Karl lebte in einer lebendigen Praxis des Gebets. Seine grundlegende Haltung war die des Gebets: bewusst vor Gott stehend, dessen Willen suchend und ihm alles anvertrauend.
Von Kindheit an begleiteten betende Menschen das Leben Karls. Über seinen Tod hinaus betet die Gebetsliga im Sinne Kaiser Karls und begleitet von seiner Fürsprache für den Frieden der Völker.
Karls Bescheidenheit, Freundlichkeit und Versöhnungsbereitschaft wurden ihm vor allem von Zynikern der Macht als Schwäche, ja Dummheit angekreidet. Dieser Angriff richtet sich gegen die „Torheit“ des Christen, der sich nach den Geboten Gottes und dem Beispiel Christi zu verhalten versucht und auf Gott vertraut.
Von Anfang an war Karl in Situationen des Unfriedens hineingestellt (in die Spannungen zwischen seinen Eltern, zwischen Kaiser Franz Joseph und dem Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand, mitten in den I. Weltkrieg), die er nicht herbeigeführt hatte, und er bemühte sich um Frieden – als Kaiser war er damit wohl ähnlich überfordert wie als Kind. Hätte irgend ein Mensch diese Probleme lösen können? Das wird sich ebenso wenig beantworten lassen, wie die Frage, wie viel Schlimmeres der Kaiser vielleicht verhindert hat.
Ob ein Leben vor Gott – und damit auch vor dem definitiven Ausgang der Geschichte – glückt, hängt nicht vom unmittelbaren irdischen Erfolg ab. (Sonst könnte Christus nicht Vorbild sein.) Wer angesichts aller widrigen Umstände und eigener Begrenztheiten dem Willen Gottes zu entsprechen versucht, dessen Leben wird heilig und hilfreich.
A
ls Christen sind wir alle Überforderte. Dem Beispiel Christi zu folgen – das übersteigt in den Widrigkeiten dieser Welt zweifellos die bloß menschlichen Fähigkeiten. Aber wir sind nicht nur auf unsere eigene Kraft angewiesen, sondern eingeladen, die Hilfe Gottes anzunehmen und ihm gegen die Logik der Gewalt zu vertrauen.
Ein Gefühl der Resignation droht sich angesichts des Unfriedens und der zynischen Gewaltanwendung in unserer Welt auszubreiten. Hat es einen Sinn, dagegen anzukämpfen? Siegen nicht doch die Gewalttäter, wie schon der Psalmist klagt? Ist der Friede in der Welt überhaupt möglich? Können die Völker Europas je in Freiheit und Respekt zusammenleben? Können wir auch nur im Kreise unserer Familien Frieden halten?
Das Leben Kaiser Karls ist ein ermutigendes Beispiel im Glauben. Seine Seligsprechung will allen Mut machen, die sich durch ihre Aufgaben überfordert fühlen – und sie lädt ein, die eigenen (auch noch so begrenzten) Möglichkeiten für Frieden, Freiheit und liebevolle Verantwortlichkeit zu nutzen.
Nach einem „verlorenen Jahrhundert“ der Zerstörung durch die gottlosen Ideologien des Nationalsozialismus und des Bolschewismus haben die Völker Europas erneut die Chance, wieder zusammen zu finden. Nun gilt es, die Seele Europas im Geiste Christi, im Heiligen Geist, für diese Aufgabe neu zu beleben und zu begeistern. Die Widerstände, die sich uns dabei entgegenstellen, brauchen uns nicht verzagen zu lassen, sondern laden uns ein, noch ernsthafter den Willen Gottes zu suchen und im Vertrauen auf ihn zu handeln. Karl aus dem Hause Österreich, der aus diesem Geiste gelebt und für das Zusammenfinden der Völker sein Leben eingesetzt hat, ist uns dabei ermutigendes Beispiel und Schutzpatron.
Die Torheit Gottes ist weiser als die Weisheit der Welt. Das Vertrauen darauf hilft zu leben.